Gender & Lieben | Essay

Übergänge feiern, Grenzen fühlen.

Coming-of-Age im Kinder- und Jugendfilm

Filmbild aus "Weil ich Leo bin"
"Weil ich Leo bin" (c) Filmportal

„Ich liebe Coming-of-Age-Filme.“ Das hören wir immer wieder. Nicht ohne Grund wird die Sektion Generation 14+ als heimliches Juwel des Filmfestivals Berlinale gehandelt. Hier laufen die Filme, die uns wirklich berühren! Uns? Da sprechen wir wohl aus einer Erwachsenenperspektive. Ja und nein. Denn Coming-of-Age-Filme sind Filme, die Menschen offensichtlich begleiten können. Ihr Leben lang. Aber wie oft werden sie auch explizit für Kinder und Jugendliche erzählt und sind keine Filme mit jungen Protagonist*innen für ein älteres Publikum?

Dieses Genre, das irgendwie auch kein Genre ist, erscheint wie eine Wundertüte. Worin sich alle Filme gleichen, ist, dass sie junge Protagonist*innen haben und dass sie sich alle thematisch dem Übergang widmen. Dem Überschreiten einer Entwicklungsschwelle, das keine Möglichkeit der Rückkehr in die alte Welt zulässt. Es lässt sich nicht trennscharf von einem klassischen Genre sprechen, da es viele Mischformen mit anderen Genres gibt, wie dem Liebesfilm, Roadmovies, Fantasy oder auch Horror.

Vom Bildungsroman zum Film

Im Coming-of-Age-Film wird oftmals in Räumen des Dazwischens ein Spannungsfeld ausgeleuchtet, in dem sich das Individuum zur Gesellschaft befindet, in dem die Heranwachsenden sich erstmals dem stellen müssen, was die Gesellschaft von ihnen verlangt. Daraus folgt ein wichtiger Schritt der Identitätsbildung, sowohl in der Anpassung als auch im Widerstand. In vielen Literaturen der Welt besteht der Entwicklungs- oder Bildungsroman, der in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts seinen Erfolg begann und der dort vor allem noch die sittliche Reifung der Hauptfigur in den Blick nahm.

Weshalb die Sektionen für junges Publikum bei den Filmfestivals die wahren Perlen sind, liegt auch an den Filmemacher*innen. Denn oft finden sich hier Debüts des Nachwuchses und somit auch der erzählerischen Avantgarde einer Generation. Coming-of-Age verarbeitet aktuelle gesellschaftliche Diskurse und ist deshalb besonders bei Filmemacher*innen, die gerade in eine Branche eintreten, beliebt. Sie begeben sich in Erzähltraditionen hinein, die sie anerkennen müssen und befinden sich oftmals auch im Widerstand. Ein Paradox, das auch Genre-immanent die Phasen von Übergängen beschreibt. Es werden neue Erzählweisen ausprobiert, es werden neue Bildsprachen geschaffen. Es sind Experimentierfelder, die uns mit all ihren Brüchen und Kanten und Pickeln liebevoll an unsere eigenen Erfahrungen als Kinder und Jugendliche erinnern und Menschen im Heranwachsen ein vielfältiges Bild von Möglichkeiten eröffnen können.

Unterrepräsentierte Perspektiven

So finden sich auch in deutschsprachigen Coming-of-Age-Filmen immer mehr Perspektiven von marginalisierten und unterrepräsentierten Perspektiven. Sie zeigen queeres Leben und vielfältige Geschlechtsidentität von Figuren in einer Selbstverständlichkeit, die gleichzeitig die Grenzen der gesellschaftlichen Normen nicht unterminiert und somit Vielfalt in einer zunehmenden Komplexität glaubwürdig erzählt. In vielen Filmen und vor allem Serien begegnen uns diese jungen Protagonist*innen. Aber wo wird auch für ein jüngeres Publikum diese Art der Erzählung relevant gezeigt? Hier sind sowohl in Deutschland als auch international Filme noch rar. Beispiele, die auch in dieses Dossier Eingang gefunden haben, lassen sich hier bei Filmemacher*innen wie Joya Thome oder Tajo Hurrle ausmachen. Sowohl der Dokumentarfilm „One in a Million“ als auch der Kurzspielfilm „Weil ich Leo bin“ nehmen Coming-of-Age ernst und interpretieren es für eine junge Zielgruppe, indem sie die Lebensrealitäten der Zielgruppe erzählen. Was beide Filme im Coming-of-Age für Kinder und Jugendliche auszeichnet, ist, dass diese Zeit nicht durch die Perspektive der Filmemacher*innen glorifiziert werden. Sowohl in dem Kurzfilm wie auch in der dokumentarischen Langzeitbegleitung gelingt es, bei der Perspektive der Protagonist*innen zu bleiben, ohne ein erwachsenes Verklären der Zeit oder eine überhöhte Dramatisierung der Gefühlswelten zu inszenieren.

Empathie-Lücken und das Hinterfragen von Normen

In Coming-of-Age-Filmen generell feiern Erwachsene oftmals ihren ermüdeten Widerstandsgeist. Sich zu erinnern, wie es war, mit voller Wucht und Konsequenzen den gesellschaftlichen Normen zu begegnen. Das sind prägende Erinnerungen, die durch das Rezipieren dieser Geschichten reaktiviert werden können. Die beiden oben genannten Filme schaffen durch ihre besondere Perspektive ein intensives Angebot, um die Empathielücke für die Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu schließen und eine Repräsentation von jungen Perspektiven, die so selten zu sehen sind, zu ermöglichen.

Die Empathielücke nennt Emilia Roig in ihrem Buch „Why we matter“ die Lücke, die verhindert, dass sich mit Geschichten aus marginalisierten und unterrepräsentierten Perspektiven identifiziert wird, auch wenn es um universelle Geschichten geht. Die Lücke, wegen der Kinderfilmemacher*innen geraten wird, eine männliche Hauptfigur zu wählen, weil diese sich auch Mädchen anschauen, andersherum aber nicht. Oder die Lücke, wegen der ein Romcom immer ein heterosexuelles Paar erzählt, außer es ist dezidiert eine queere RomCom. Das Besondere an Alter als eine soziale Kategorie unserer Identität ist, dass sie sich ständig ändert und wir alle, ausnahmslos Kinder und Jugendliche waren.

Coming-of-Age-Filme erinnern uns daran und besitzen das große Potential, uns in jedem Alter in die Gefühlswelten von jungen Menschen zu versetzen und die oftmals absurden Normen unserer Gesellschaften zu hinterfragen. Coming-of-Age-Filme für Kinder und Jugendliche bedürfen zudem eine Reflektion des eigenen erwachsenen Blicks auf Kindheit und Jugend und eine Erzählung über junge Protagonist*innen, die nicht nur junge Schablonen der alten Egos sind, sondern mit einer Ernsthaftigkeit, auch in der Komödie, ihre Perspektiven sichtbar machen können.

Johanna Faltinat

Zu den Filmen

Filmbild aus "One in a Million"
"One in a Million" (c) Flare Film / Lydia Richter

One in a Million

Deutschland 2022, Joya Thome

Als Frau heranwachsen: In der virtuellen Öffentlichkeit der sozialen Medien oder in einer norddeutschen Kleinstadt. Die verwobenen Portraits von Whitney und Yara zeigen, wo die Herausforderungen liegen, sowohl im Alltag als auch in den Sehnsüchten und den engen gesellschaftlichen Bildern von Weiblichkeit.

Filmbild aus "Weil ich Leo bin"
"Weil ich Leo bin" (c) Filmportal

Weil ich Leo bin

Deutschland 2022, Tajo Hurrle

Was sind die Übergänge vom Kindsein zum Jugendlichsein? Es kann ein Tag sein, der mit voller Wucht eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht fordert, für das Leo in diesem Moment noch nicht bereit ist.

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