Gender & Lieben | Über dieses Dossier

Wir brauchen cineastische Vielfalt von Geschlechteridentitäten und sexueller Orientierung

Gender & Lieben im Kinder- und Jugendfilm kuratieren

Filmstill von "Nimona"
"Nimona" (c) Netflix

Fast könnte man meinen, dass es mittlerweile politische Begriffe sind: Gender, Geschlecht und Begehren. Dabei sind es Begriffe, die für das Heranwachsen, für all die Transformationen und Persönlichkeitsentwicklungen eine wesentliche Rolle spielen: Wen spiele ich im Theater der Geschlechter? Oder verweigere ich mich den tradierten Rollen? Wen liebe ich wie? Aus welchem Körper heraus nähere ich mich welchem Körper mit welchem Begehren?
Wenn wir uns in den Themenkomplex von Gender & Lieben begeben, beziehen wir automatisch auch Fragestellungen zu Geschlechteridentität, biologischem Geschlecht, sexueller Identität mit ein. Zugehörigkeit spielt eine große Rolle, Sehnsüchte und das Finden von passenden Selbstbeschreibungen sind für Kindheit und vor allem für die Jugend prägend.

Hauptfiguren als Subjekte

Wir, als kuratorisches Team, sind weit entfernt von dem, was als Zielgruppe dieser Filme benannt wird. In vielen Fällen sind auch die Filmemacher*innen einige Jahre entfernt von ihrer Kindheit und Jugend. Eine Ausnahme machen hier die Filme „Furor“ und „Weil ich Leo bin“, die im Rahmen des Deutschen Jugendfilmpreises ausgezeichnet wurden. Um trotzdem eine möglichst adultismussensible Auswahl von Filmen zu treffen, haben wir uns zum Prinzip gemacht, dass alle Hauptfiguren in den ausgewählten Filmen Subjekt sein müssen. Das bedeutet, dass sie mit ihrer Ausgrenzungserfahrung, die sie als Kinder und Jugendliche machen, und gegebenenfalls auch in ihren weiteren Identitäten, handlungsfähig gezeigt und nicht defizitär erzählt werden. Es ist ihr Blick, der die Geschichte führt, und der den Film prägt. Ihre Perspektive ist die, die zählt und mit der wir uns kompromisslos auseinandersetzen müssen.

Von Geschlechterbildern bis zu queerem Begehren

Wir haben Filme ausgewählt, die uns überzeugt haben, dass sie heute und auch noch in fünf Jahren relevant sind und wir haben uns entschieden, vor allem Perspektiven zu Gender & Lieben einen Raum zu geben, die unterrepräsentiert und marginalisiert sind. Der intersektionale Blick ist uns dabei besonders wichtig. Er findet sich in jeder der kuratierten Geschichten, weil es sich immer um junge Menschen handelt und um Transgeschlechtlichkeit oder Non-Binarität, um Frauenbilder und -rollen, um queeres Begehren. Und nicht zuletzt haben wir Filme ausgewählt, die aktuell oder in Kürze in Deutschland verfügbar sind und somit geschaut werden können. Vier Schwerpunkte innerhalb des Dossiers haben sich aufgedrängt, um das Spektrum von Gender & Lieben zu bespielen. Die Geschichten in Ich bin ich untersuchen Geschlechteridentitäten auch abseits binärer Konstruktionen, in Masken und Rollen suchen die Helden*innen passende Geschlechterrollen und Beziehungsmodelle für sich, wohingegen Lesbisch lieben und Schwul lieben sexuelle Identitäten und Begehren in Augenschein nehmen. Weil die Filme unserer Auswahl ihre Hauptfiguren als Subjekte verstehen, können diese auch in mehreren Filmsammlungen auftauchen. Zum Beispiel, wenn es sowohl um Fragen von Geschlechterrollen als auch um schwules Lieben geht.

Innerhalb des themenübergreifenden Beitrags Intersektionale Perspektiven im Film werden außerdem Filme vorgestellt, welche Migration, Gender & Sexualität miteinander verzahnen und feiern. Diese hervorzuheben, war uns besonders wichtig, weil sie neue Narrative über marginalisierte Perspektiven schaffen. Narrative, die diesen Perspektiven gerecht werden.

Universelle Geschichten aus marginalisierten Perspektiven

All diese Filme möchten wir durch dieses Dossier stärken. Ein Kanon, der hoffentlich stetig wachsen wird, sodass die Lücken geschlossen werden können, die wir heute noch verzeichnen müssen. Gerade wenn wir über Geschlechteridentitäten abseits des binären cis Frau- und Mannseins sprechen, werden vor allem Geschichten gezeigt, die Nichtbetroffenen erklären sollen, wie es so ist und sich anfühlt. Wir brauchen aber Narrative, die aus der Perspektive von Betroffenen universelle Geschichten über Freund*innenschaft, Liebe, Begehren und Sexualität erzählen. Geschichten, die nicht beim inneren oder äußeren Outing einer queeren Person aufhören, sondern dort ansetzen, wo queere Liebe auch gefeiert wird. Würdigen sollten wir aber auch alle Filme auf dem Weg zu diesem Ziel. Und so geben wir auch einem Klassiker des queeren Jugendkinos eine besondere Bühne. Manche Filme, die uns heute antiquiert erscheinen, waren Avantgarde und aus ihnen konnten andere erwachsen, wie das Gespräch zu „Fucking Åmål“ zeigt.

In einem essayistischen Text heben wir die Bedeutung für das Übergänge feiern, Grenzen fühlen im Coming-of-Age-Film hervor. Besonders für unterrepräsentierte und marginalisierte Perspektiven ist dieses (Nicht/All)Genre eine große Chance ins Kino zu kommen und von möglichst vielen jungen Menschen gesehen zu werden. Zu all diesen Fragestellungen geben die Filme unseres Dossiers vielfältige und differenzierte Antworten. Aber sie geben auch nicht alle denkbaren Antworten. Beim Blick auf unsere Auswahl sehen wir ermutigendes und viele gute Entwicklungen. Wir freuen uns, dass wir Filme mit bestärkenden und optimistischen Geschichten präsentieren können, in dem Wissen, dass lange Zeit eher traurige und melodramatische Filme dieses Themenfeld bestimmt haben. Wir ahnen aber auch Leerstellen, die gerne künftiger Stoff für Filmschaffende sein dürfen.

Büro für Vielfältiges Erzählen

Die Kurator*innen I Büro für vielfältiges Erzählen

Seit 2019 arbeiten Letícia Milano und Johanna Faltinat an der Schnittstelle von Dramaturgie und Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung. Sie halten zu diesem Themenkomplex Workshops, Vorträge und Keynotes, sie beraten und lektorieren Film- und Serienprojekte in allen Phasen der Entwicklung. Gelegentlich sitzen sie in Auswahljurys und kuratieren.

Die Herausgeber*innen I KJF

Als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen haben Carina Schlichting und Christian Exner im Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) ein Auge auf die Filmempfehlungen. Und Andrea Mittelbach macht Datenpflege und Koordination.

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