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Masel Tov Cocktail

Dima wird nichts erspart und er erspart dem Publikum nichts: Eine Tour-De-Force durch Deutschlands beliebteste Geschichte über das Jüdischsein.

Kaum hat der Film begonnen, darf sich das Publikum nicht etwa entspannt zurücklehnen. Denn Dima schaut dich an. Und dann schlägt er zu. Auf dem Schulklo schlägt er seinen Mitschüler Tobi, weil dieser ihn aus purer Lust an Provokation als Schoah-Opfer verhöhnt.

Schwarzblende. Ein neuer Tag. Das Publikum begleitet Dima. Dima, der unter der Regie von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, den deutschen Goijm im Publikum einen Vortrag über das eigene Gedächtnistheater hält, und gleichzeitig eine radikale Selbstermächtigung an den Tag legt: In Bezug auf das Jungsein, das Jüdischsein und das Migrantischsein in all seiner intersektionalen Komplexität.

Dima wird eine Woche von der Schule suspendiert und seine Eltern zwingen ihn, sich bei Tobi zu entschuldigen. Auf der Suche nach Tobi, der irgendwo in der Stadt zur Strafe Stolpersteine putzen muss, begleiten wir Dima durch die Absurditäten, in Deutschland jüdisch und migrantisch zu sein. Eine Kombination, die im deutschen Bewusstsein noch nicht angekommen ist. Dabei sind es etwa 200.000 jüdische Menschen, die als sogenannte Kontigentflüchtlinge nach 1991 aus den Ländern der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Eine Maßnahme der Politik, um der jüdischen Identität in Deutschland wieder Leben einzuhauchen.

In Dimas Erfahrungen geben sich Antisemitismus und antislawischer Rassismus die Hand. Die Dominanzgesellschaft, verkörpert durch eine Lehrerin, einen Mitschüler, die Mutter Tobis und einen Politiker einer rechten Partei, sucht sich immer gerade die Identität Dimas aus, die ihr am besten passt. Dagegen wehrt sich Dima. Er wehrt sich gegen alle Zuschreibungen und dagegen, in seiner komplexen Identität unsichtbar gemacht zu werden.

Der Dima-Darsteller Alexander Wertmann wehrt sich, indem er buchstäblich gegen die Kamera schlägt: Er durchbricht die vierte Wand und erlaubt dem Publikum nicht, zu denken, sie hätten es verstanden. Sein Blick und seine direkte Ansprache lenken die Perspektive immer wieder auf die komplexen Zusammenhänge, die sich nicht schematisch in gängige Erzählungen über das Jüdischsein in Deutschland einordnen lassen.

Neben der dynamischen Kamera, die Dima begleitet, ist es auch eine männliche Erzählstimme, die Dimas persönliche und kritische Beobachtungen mit konkreten Zahlen untermalt, die kontextualisiert auch im Bild eingeblendet werden.  

Arkadij Khaet und Merle Teresa Kirchhoff, die zusammen das Drehbuch geschrieben haben, lassen ihre Zuschauer*innen und sie lassen ihre Figur nicht vom Haken. Es wird keine Lösung für Dima sein, sich zu entschuldigen. Denn es gibt eben keine Entschuldigung und auch keine Vergebung der Schuld für die Verbrechen an der Menschlichkeit, die in der Schoah begangen wurden. Damit reiht sich die Haltung des Films ein in die Debatte, die auch durch Max Czolleks Buch „Desintegriert euch“ befeuert wurde. Die aktuelle deutsche Erinnerungskultur an die Ermordung der Juden*Jüdinnen im Holocaust erlöst Deutsche mit Nazihintergrund nicht von ihrer kollektiven Schuld. Vielmehr als diese Form von Betroffenheit braucht es offene und kritische Unterhaltungen über eine Gesellschaft, die ein „Nie wieder!“ nicht nur sagt, sondern auch meint und mit dem Konzept der Desintegration arbeiten sollte. Damit zielt Czollek besonders auf ein neues Verständnis von Zugehörigkeit ab. Eines, das erlaubt, verschieden sein zu können, ohne Angst haben zu müssen! Und vor allem auch Vieles sein zu können. Denn selten sind Menschen nur eines und so sollten auch Figuren in Filmen nicht nur eines sein. Sonst wird es immer wieder nur eine Erzählung geben, die schon bald zur einzigen Wahrheit über eine ganze Gruppe von Menschen geworden ist. Hier baut der Film auch seine Brücke von einem Film für Nichtbetroffene zu einem befreienden und emanzipierenden Plädoyer für diejenigen Menschen, die sich Identitäten mit Dima teilen: sowohl jüdische als auch migrantische.

Dima fragt kurz vor Ende: „Wohin soll ich mich entwickeln?“ Dabei spricht er von sich als Hauptfigur in einem Film. In welcher Art von deutschen Filmen dürfen sich jüdische Figuren überhaupt entwickeln? Wo dürfen sie wirklich Subjekt sein? „Masel Tov Cocktail“ ist eine unterhaltsame Kritik an der deutschen Filmlandschaft, in der jüdische Menschen in schwarz-weiß Bildern bislang fast ausschließlich nur Opfer sein dürfen.

Johanna Faltinat


Übrigens: „Masel Tov Cocktail“ und andere tolle Filme sind Teil des Themendossiers „Migration“. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.

© SWR Kultur
12+
Kurzfilm

Deutschland 2020, Regie: Arkadij Khaet & Mickey Paatzsch, Festivalstart: 21.01.2020, Homevideostart: 15.02.2021, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 31 Min., Regie: Arkadij Khaet, Mickey Paatzsch, Buch: Arkadij Khaet, Merle Teresa Kirchhoff, Kamera: Nikolaus Schreiber, Schnitt: Tobias Wieduwilt, Musik: Andreas Skandy, Produktion: Christine Duttlinger, Ludwig Meck, Lotta Schmelzer, Verleih: Filmakademie Baden-Württemberg, Besetzung: Alexander Wertmann, Mateo Wansing Lorrio, Petra Naldony, Isabella Leicht, Steffen C. Jürgens, Mike Maas, Luke Piplies, Vladislav Grakovskiy, Liudmyla Vasylieva, Moisej Bazijan, Gwentsche Kollewijn, Masud Akbarzadeh, Produktion: Christine Duttlinger, Ludwig Meck, Lotta Schmelzer

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