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Bande de Filles

Marieme lebt in der Pariser Vorstadt und schließt sich dort einer Mädchengang an. Mit neuem Namen erkundet sie Freiheiten und Grenzen.

Anarchie, Chaos und Gewalt – Schlagwörter, die die mediale Berichterstattung über die sogenannte Banlieue dominieren. Damit sind die französischen Vorstädte mit ihren gigantischen Hochhauchsiedlungen gemeint, die ab den 1950er Jahren erbaut wurden, um zahlreichen Industriearbeiter*innen kostengünstigen Wohnraum abseits der Zentren zu bieten. Als jedoch in den 1970er Jahren die Rezession und die Deindustrialisierung einsetzte, führte dies zur Massenarbeitslosigkeit unter den Bewohner*innen. Die infrastrukturelle und soziopolitische Ausgrenzung sorgte dafür, dass sich die Banlieue zu einer Konfliktzone entwickelte.

Es dauerte nicht lange, bis das französische Kino unter dem Sammelbegriff cinéma de banlieue an den öffentlichen Diskursen über die angespannte Lage in der Banlieue anknüpfte und die Schicksale seiner Bewohner*innen zum Thema machte. Aufgrund düsterer Bilder tragen sie häufig zur Stigmatisierung dieser Orte bei. Zudem erzählen viele Banlieue-Filme Geschichten von Cis-Männern mit Migrationsgeschichte, wohingegen die Perspektiven von weiblichen als auch queeren Figuren of Color kaum, und wenn überhaupt, dann oftmals sehr klischeebehaftet dargestellt werden.

Mit „Bande de Filles“ bricht Céline Sciamma diese Tradition, indem sie einen Film über Schwarze Teenagerinnen in der Banlieue mit einem fast ausschließlich Schwarzen Cast auf die Leinwand bringt. Und auch wenn die Authentizität der präsentierten Bilder angezweifelt werden kann (Als weiße Filmemacherin erzählt Sciamma über die täglichen Kämpfe junger Schwarzer Mädchen), unterscheidet sich Sciammas Werk von zahlreichen anderen Banlieue-Filmen: Ihr gelingt es, eine Geschichte zu kreieren, die den inhaltlichen Schwerpunkt von der Machtlosigkeit auf die Selbstermächtigung der Figuren verlagert.

Im Fokus der Coming-of-Age-Story steht das Leben der 16-jährigen Marieme, die in der Pariser Banlieue lebt. Während ihre Mutter arbeitet, schmeißt sie neben der Schule den Haushalt und kümmert sich um ihre zwei jüngeren Schwestern. Vom Vater fehlt jegliche Spur. Die einzige Autoritätsperson im Haus ist ihr älterer Bruder, der ihren Alltag durch seine tyrannische Art zusätzlich erschwert. In der Schule geht es Marieme nicht besser. So erklärt ihr ihre Lehrerin, dass sie die weiterführende Schule aufgrund ihrer schlechten Noten nicht besuchen kann. Oder liegt es vielleicht an den rassistischen und klassistischen Strukturen im Schulsystem? Wütend über diese Nachricht schließt sich Marieme einer dreiköpfigen Mädchengang an. Lady, Fily und Adiatou sind aber nicht so skrupellos wie man sich Kriminelle vorstellt, sondern, ganz im Gegenteil, sympathische Individuen, die zusammenhalten, sich von niemanden etwas gefallen lassen und nur dann Verbrechen begehen, wenn es sein muss. Ihren Alltag verbringen die Jugendlichen damit, rastlos durch die Straßen zu wandern. Da die Gesellschaft Vorstadtbewohner*innen wie ihnen weder positive Zukunftsaussichten noch einen sicheren Platz der Entfaltung bietet, kreieren sich die Vier ihren eigenen Safe Space: Für eine Nacht buchen sie sich in ein luxuriöses Hotelzimmer ein, um dort ihr „Frausein“, ihre Jugend und Freund*innenschaft zu feiern, fernab objektivierender und verurteilender Blicke anderer, insbesondere der Männer aus der Banlieue. Als Rihannas Single „Diamonds“ zu hören ist, stehen die Teenagerinnen auf und tanzen gemeinsam. Die ganze Szene hebt sich ästhetisch von dem Rest des Films ab und wirkt wie ein separates, in sich geschlossenes Musikvideo, da im Gegensatz zu den grauen Bildern in der Banlieue alles in die Farbe Blau eingetaucht ist, die symbolisch für den kurzen Moment der Freiheit und Ausgelassenheit steht. Damit entsteht ein empowernder Augenblick, der berührt und im Gedächtnis bleibt.

In einem Initiationsritual erhält Marieme eine Kette mit ihrem neuen Bandennamen „Vic“, kurz für victoire (dt. Sieg), wodurch sie offiziell Teil der Gang wird. Mit ihrem neuen Namen entdeckt sie, welche Macht hinter der Konstruktion und Performativität von Identitäten steckt, die alle unterschiedlichen Freiheiten und Grenzen mit sich bringen. So macht sie im Verlauf des Films eine Reihe an Transformationen durch, die ihren Prozess der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens vorantreiben. Trifft sie sich mit der Mädchenbande, trägt sie eine Perücke mit glatten, schwarzen Haaren. Hängt sie mit männlichen Drogendealern ab, bandagiert sie sich ihre Brüste und trägt kurze Braids sowie weitsitzende Klamotten, um ihren sexuellen Anzüglichkeiten zu entgehen. Liefert sie reichen, weißen Kund*innen auf Partys Drogen, trägt sie eine blonde Perücke und ein enganliegendes, farbenfrohes Mini-Kleid. Jede dieser Verwandlungen ist durch eine Schwarzblende gekennzeichnet, die mit Elektromusik unterlegt ist und sich rhythmisch an den jeweiligen Lebensabschnitt anpasst, mal pulsierender, mal ruhiger. Als Zuschauer*in weiß man nie wirklich, wer Marieme ist; sie selbst weiß es nicht. Das offene Ende lässt jedoch hoffen, dass sie einen Weg zu sich selbst finden wird. Trotz der Rückschläge fängt sie sich wieder und bewegt sich mit selbstbewussten und zielgerichteten Schritten aus dem Frame in eine unbestimmte Zukunft.

Dilan Yildirim


Übrigens: Darüber, was „Bande de Filles“ und andere Filme auszeichnet, sprechen wir in Intersektionale Perspektiven im Film. Ein Beitrag, der im Rahmen der Themendossiers „Gender & Lieben“ sowie „Migration“ entstanden ist. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.

© Peripher
14+
Spielfilm

Frankreich 2014, Regie: Céline Sciamma, Kinostart: 26.02.2015, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 113 Min., Buch: Céline Sciamma, Kamera: Crystel Fournier, Schnitt: Julien Lacheray, Musik: Jean-Baptiste de Laubier, Produktion: Hold Up Films/Lilies Films/Arte France Cinéma, Verleih: Peripher, Besetzung: Karidja Touré (Marieme / Vic), Assa Sylla (Lady), Lindsay Karamoh (Adiatou), Marietou Touré (Fily), Idrissa Diabate (Ismaël)

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